Leseprobe Fischbrötchen und Zuckerstreusel von Jane Hell
1 Der Anruf
»Nein, ich habe nicht frei. Ich muss in den Semesterferien meine Abschlussarbeit schreiben.« Ich gähnte und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Mein Gehirn befand sich noch im Tiefschlaf. »Warum fragst du? Und warum rufst du mitten in der Nacht an?«
»Kindchen, es ist schon nach acht. Hab dich nicht so. Und Tante Rieke ist …«, meine Mutter atmete hörbar ein und wieder aus.
»Oh nein! Was ist mit Tante Rieke?«
»Keine Sorge, Kindchen. Ihr geht es gut. Sie hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Die OP ist rum, aber sie ist jetzt für zwei bis drei Wochen auf Reha. Das wird schon.«
»Puh. Erschrick mich nicht so, Mama!« Mir fiel ein Stein vom Herzen, doch mir kam ihre Ausgangsfrage wieder in den Sinn. »Du meinst, ob ich vielleicht aushelfen kann in ihrem Café?«
»Ja. Also …« Mama räusperte sich und druckste rum. »Nun, wo sie ausfällt, braucht sie jemanden, der sie im Café ersetzt. Jemanden, der ihr den Laden führt. Sie hat sich ja nie darum gekümmert, eine Notlösung zu finden. Ich habe es ihr schon tausend Mal gesagt!«
»Und ich soll jetzt die Notlösung sein?«, fragte ich, um das übliche Schimpfen über die Unzulänglichkeiten ihrer Schwägerin zu unterbrechen.
»Ja. Dein Vater und ich dachten, das könntest Du übernehmen. Du hast bis Oktober frei und kannst Tante Rieke vor dem Ruin bewahren. Wenn sie die Sommersaison schließen muss, wäre das vermutlich das finanzielle Aus vom Café Seestern.«
Ich verdrehte die Augen. Wie immer schob sie Papa vor.
Und was ist mit meiner Abschlussarbeit?
Ich dachte nach. Bei Tante Rieke hatte ich früher immer den Sommer verbracht. Ich liebte sie und ihr idyllisches Café direkt am Meer. Verdammt!
»Mama, da ruft noch jemand auf meinem Handy an. Ich melde mich gleich wieder!«, sagte ich, bevor ich auflegte. Die Notlüge hatte sie hoffentlich nicht bemerkt. Ich brauchte Zeit. Das wurde mir alles zu viel. Was mache ich jetzt?
Keine Frage. Bei Tante Rieke hatte ich mich als Kind immer wohlgefühlt. Ich naschte Eis und Sahne und tobte am Strand und im Meer. Ich fühlte mich dort frei.
Ein lauter Nachrichtenton riss mich aus meinen nostalgischen Gedanken. Paul. Das darf doch nicht wahr sein!
»Hi Anni, kann ich meine restlichen Sachen aus deiner Wohnung holen? Ich bin nur zwei Straßen weiter. Bin in fünf Minuten da«, nuschelte er aus der Sprachnachricht in meinem Handy. Ich beherrschte mich, das Telefon nicht an die Wand zu werfen, und schaute stattdessen erst an mir herunter und dann durch mein WG-Zimmer.
»Verdammt!«, dachte ich.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, rief ich durch die verlotterte Wohnung. Jule war seit einer Woche nicht in Berlin und schon sah die WG aus wie ein Saustall. Ich riss das Fenster auf, um den abgestandenen Geruch von alter Pizza und Frust loszuwerden. Auf dem Weg ins Badezimmer schob ich die herumliegenden Klamotten unter meinen Kleiderschrank. Ich hatte mich in den letzten Tagen gehen lassen. Der Blick in den Spiegel ließ mich zusammenzucken. Die Schatten unter den Augen feierten eine Party mit ungepflegter Haut. Ist das etwa noch Tomatensauce von gestern an meinem Kinn?
Was war wichtiger: die WG oder ich? Ich entschied mich für mein Äußeres, spritzte mir Wasser ins Gesicht, versprühte gefühlt eine halbe Deoflasche unter meinen Armen und tuschte mir die Wimpern. Die Haare zwirbelte ich flink zu einem lässigen Dutt hoch. Meine dunkelblonden Locken sahen trotzdem zerzaust aus. Daran hatte ich mich in den letzten Jahren gewöhnt. Dann ersetzte ich den kuscheligen Overall, in dem ich die letzten Tage gelebt hatte, durch eine würdevollere Alternative. Ich befand eine saubere, schwarze Leggins und ein gemütliches, graues Sweat-Kleid als ausreichend. Das passte perfekt für einen Montagmorgen in den eigenen vier Wänden. Nicht so lädiert wie der Overall mit den Pizzaflecken, aber auch nicht zu gewollt gestylt. Das Kleid stand mir und was wichtiger war: Ich fühlte mich darin wohl.
Ich erschrak, als die schrille Altbauklingel Pauls Auftritt ankündigte, obwohl ich ihn erwartete. Der fünfte Stock ohne Fahrstuhl gab mir noch einen Augenblick. Hastig schob ich die von mir mit Herzblut gestalteten Fotoalben unserer gemeinsamen Zeit unter den Schrank. Er sollte nicht sehen, wie sehr ich an uns hing. Uns. Das gab es nicht mehr.
Ich wischte mit meiner Hand sachte die nasse Spur unter meinen Lidern weg. Tränen konnte ich in diesem Moment nicht gebrauchen. Verlaufene Wimperntusche, die meinen emotionalen Zustand treffend unterstreichen würde, noch viel weniger.
Ich öffnete die Tür.
»Hi Anni, alles gut bei dir?« Paul schnaufte durch.
Nichts ist gut, seitdem du mich nach drei Jahren Beziehung für so ein blondiertes, aufgetakeltes Flittchen verlassen hast!
»Alles bestens. Mir geht es prima«, antwortete ich und versuchte, möglichst natürlich zu lächeln. Ich war mir sicher, es sah verkrampft aus, aber das war nicht zu ändern. Paul schob sich durch die Tür in die Wohnung – so selbstverständlich, als würde er hier weiter ein und aus gehen. Der Duft seines Eau de Toilettes stieg mir in die Nase und ließ Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen bis die Bilder von Paul und seiner neuen Tussi vor meinem inneren Auge aufblitzten. Mir wurde schlecht.
»Meine Sporttasche und die dicke Winterjacke müssten noch hier sein. Und die Zahnbürste. Aber die kannst du wegschmeißen.« Er überprüfte den Sitz seiner zurückgegelten Haare im Spiegel.
Ich schob ihm die Sporttasche mit dem Fuß rüber. Die Jacke hatte ich bereits auf die Tasche gelegt. Dass ich die Zahnbürste vor Tagen entsorgt hatte, brauchte Paul nicht zu wissen. Auf keinen Fall wollte ich ihm zeigen, wie sehr er mich verletzt hatte.
»Ah. Danke. Lissy sitzt unten im Auto. Ich muss schnell wieder runter. Mach’s gut!«, sagte Paul. Er richtete die Sonnenbrille auf seinen Haaren und drückte mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Ein Glück für ihn, dass er schon im Treppenhaus war, als ich die Unverfrorenheit seiner Aktion realisiert hatte.
Ich riss mich zusammen, schloss die Tür akribisch leise, anstatt sie hinter ihm zuzuknallen, schmiss mich aufs Sofa und brüllte »ARSCHLOCH« in mein Lieblingskissen. Mehrfach. Was für ein borniertes, abgebrühtes Arschloch! Unsere Pläne! Mein ganzes, verdammtes Leben hatte ich mit ihm verplant!
Das Telefon klingelte. Auf dem Display las ich »MamaPapa zu Hause«.
»Oh nein!«, ich ging ran.
»Hallo Mama!«
»Anni, Kindchen. Du wolltest Dich doch melden?«
»Ja, Mama. Ich weiß. Mir ist da was – ach egal. Weißt Du was, Mama? Ich mache mich gleich auf den Weg nach Eckernförde«, verkündete ich entschlossen.
»Ach, das ist ja prima, Kindchen! Tante Rieke hat mir am Telefon gesagt, dass Kjell den Schlüssel zu ihrer Wohnung über dem Café hat. Weißt du noch? Das ist der Koch, der Tante Rieke unterstützt. Er versucht momentan, mit Hellen den Betrieb am Laufen zu halten, und wird dir alles weitere berichten. Ich muss auflegen und packen, Kindchen. Danke noch mal. Dein Vater lässt dich grüßen. Wir melden uns, wenn wir von der Kreuzfahrt wieder zu Hause sind. Tschüsschen!«, und klick, war Mama aus dem Telefon verschwunden.
Habe ich gerade wirklich …? Heute noch an die Ostsee fahren?
Ja, ich hatte dieser Harakiri-Nummer zugesagt. Nur weil Paul hier war und mir in diesem Moment mein Zimmer, die WG-Wohnung und ganz Berlin so winzig vorkamen, dass ich so zügig wie möglich aus dieser Stadt raus wollte? Ich fluchte in mich hinein, hörte aber die mahnende Stimme von Mama im Hinterkopf – nicht fluchen, Anni, so bekommst du nie einen Mann – und riss mich zusammen. ›Ruhe bewahren, Anni‹, dachte ich stattdessen. Immer ein Schritt nach dem Anderen.
Einatmen. Ausatmen.
Ich nahm mir einen herumliegenden Zettel und fing an, eine Liste zu schreiben.
Eine Packliste für Eckernförde.
2 Die Ankunft
»Hi«, schnaufte ich ins Telefon.
»Hi Anni! Hast du gerade etwa Sport gemacht?« Ich hörte Jule durchs Handy kichern.
»Nein! Spinnst du?« Wir prusteten los. »Ich musste gerade meine superschwere Tasche vom Bahnhof nach draußen schleppen, um zum Bus zu kommen. Schienenersatzverkehr! Dass es sowas noch gibt! Das ist die sarkastische Umschreibung für: Sorry, der Zug fährt leider nicht, aber du darfst deine schwere Tasche gerne die Treppen runter zur Bushaltestelle tragen, um dort in einen Bus aus dem letzten Jahrhundert zu steigen, der die doppelte Zeit benötigt, um sein Ziel zu erreichen, und den doppelten Genervtheitsgrad der Insassen zur Folge hat.« Ich redete mich in Rage.
»Am Südkreuz? Schienenersatzverkehr?«, fragte Jule.
»Nein. In Kiel.«
»Kiel?« Jules Stimme klang schriller als sonst. »Was zur Hölle machst du in Kiel?«
Ich erklärte ihr, was ich vorhatte.
»… und deshalb habe ich meine Tasche geschultert und zur Bushaltestelle geschleppt. Mann, tut mir der Rücken weh! Warum fährt der verdammte Zug nicht?«
»Du spinnst doch. Was ist mit deiner Abschlussarbeit? Und alles nur, um Paul zu vergessen?«
»Ja, äh, nein. Ich weiß auch nicht. Tante Rieke braucht meine Hilfe.« Ich ließ die Schultern hängen und spürte einen Kloß im Hals. Mein treuer Begleiter seit Pauls miesem Betrug.
»Mensch, Anni.« Jules Stimme klang besorgt.
»Hey, mach dir keine Gedanken. Ich brauche einfach mal Abstand. Von Paul. Von Berlin.«
»Von mir?«
»Nein.« Ich lachte. »Wann kommst du zurück? Da ist noch Zeug im Kühlschrank … also wenn du magst, iss es oder schmeiß es weg.«
»Morgen. Aber deine komische Hafermilch schütte ich mir nicht in den Kaffee.«
»Lass mir meine Experimente!«, antwortete ich gespielt empört. »Ich muss jetzt aufhören. Der Zug auf Rädern biegt gerade um die Ecke.«
»Reinhau’n!«, sagten wir synchron.
Ich drückte den roten Hörer auf meinem Handy und das runde Bild von Jule mit den feuerrot gefärbten, kurzen Haaren verschwand von meinem Display.
Ich stieg in den Bus. Es war voll, aber ich hatte zwei Sitze für meine Tasche und mich. Die Türen schlossen sich mit einem unangenehmen Quietschen und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung in Richtung Norden.
Je mehr ich über die Beziehung mit Paul nachdachte und darüber, wie er mich erst betrogen und dann verlassen hatte, desto wütender wurde ich. Wütend auf mich, auf Paul, auf die Bahn mit ihrem blöden Busersatz und sogar auf Tante Rieke. Die ganze Welt konnte mich mal. Warum ich mich ausgerechnet heute auf den Weg in die Pampa machte, um dort einen Knochenjob im Café zu leisten, anstatt meine Abschlussarbeit voranzubringen, war mir nicht klar. Ich schob es auf Paul. Er ist der Blödmann und an allem Schuld! So einfach funktionierte die Welt heute für mich. An manchen Tagen reichten mir simple Erklärungen.
Der Bus bog im üblichen Touristenverkehr im Schneckentempo um die letzte Kurve und ich sah die Bucht von Eckernförde vor mir liegen. Auf einmal blieb die Zeit stehen. Leider auch der Bus. Aber das Gefühl aus meiner Kindheit war für einen Moment zurück.
Dieser Augenblick, wenn Mama und Papa mich in den Sommerferien zu Tante Rieke gefahren hatten und wir jedes Mal zeitgleich mit dem ersten Blick auf die Ostsee im Stau vor Eckernförde standen.
Mein Herzschlag beruhigte sich. Ich dachte nicht mehr an Paul, die Abschlussarbeit oder den Studienstress. Ich dachte nicht mehr an das laute, stickige Berlin. Ich träumte von den unzähligen Sommern, die ich hier verbracht hatte – und von Eisschokolade mit Sahne.
Ich wurde aus meinen Tagträumen gerissen, als der Bus hielt. Die Tür öffnete sich und frische Luft strömte in den miefigen Innenraum. Mit den anderen Mitreisenden schob ich mich durch die Doppeltür und atmete tief durch. Ich stand auf einer überschaubaren, zentralen Bushaltestation. Das kleine, sechseckige Bahnhofsgebäude nebenan sah noch genau so aus wie früher. Vor mir zog sich die Autoschlange, der ich soeben entkommen war, über die Reeperbahn und hinter mir lagen die Bahnschienen. Trotz der Abgase aus dem Stau war die Luft deutlich klarer und frischer als in Berlin.
Ich mochte Eckernförde. Das Gute an dieser Stadt war, dass nichts weit entfernt lag. Der Strand befand sich direkt bei der Innenstadt, die Innenstadt dicht am Bahnhof und der malerische Hafen war nebenan. Selbst die Wohngebiete außerhalb der Stadt waren im Nu erreichbar. Eckernförde war kleiner als so mancher Kiez in Berlin.
Als Kind kamen mir die Entfernungen riesig vor. Heute war ich froh, dass ich die Tasche nicht allzulang tragen musste. Trotzdem schnitt mir der Riemen in die Schulter. Ob es sinnvoll war, die Fachbücher für die Abschlussarbeit mitzunehmen?
Ich überquerte die Straße, ließ die Blechlawine hinter mir und trottete zur Strandpromenade. Von hier aus waren es nur wenige hundert Meter zum Café Seestern. Es war warm und der Strand war voller Menschen, obwohl es schon später Nachmittag war. Kinder bewarfen sich mit Quallen, und Möwen versuchten, die Pommestüten unachtsamer Strandbesucher zu stibitzen. Die bunte Mischung aus Strandkörben, Strandmuscheln und Sonnenschirmen schien unendlich zu sein. Ich atmete tief ein. Es roch nach einem Hauch brackiger Ostseeluft vermischt mit dem Duft von Sonnencreme und frisch frittierten Pommes. Das war der Geruch der Sommerferien meiner Kindheit.
Die Promenade führte an den fantasievoll angelegten Beeten des Kurparks vorbei. Hinter der nächsten Kurve entdeckte ich das windschiefe Reetdachhaus mit dem Anbau aus den achtziger Jahren, der nicht so richtig dazu passte. Mein Herz hüpfte. Die roten Strandkörbe auf der grünen mit Kunstgrasteppich ausgelegten Terrasse leuchteten mir entgegen. Es war voll vor dem Café Seestern. Die Schlange an der Eistheke nahm kein Ende und jeder Tisch war belegt.
Ich schob mich an den wartenden Menschen vorbei und schlüpfte wie früher durch den Hintereingang. Dort stellte ich meine Tasche ab und schlich in die Küche. Natürlich war ich nicht enttäuscht, dass Tante Rieke mich nicht erwartete. Trotzdem fehlte sie mir.
An ihrem Platz stand Kjell und schaute in eine große Schüssel mit Teig. Ich betrachtete ihn einen Moment dabei und atmete durch. Wir hatten uns ewig nicht gesehen. Seine blonden Haare waren verwuschelt wie früher.
»Hi Kjell!«, rief ich, um gegen die ohrenbetäubende Küchenmaschine anzukommen.
Er schaute von seiner Teigschüssel zu mir auf.
»Moin Anni. Endlich! Das wurde aber auch Zeit! Getrödelt, oder was? Binde dir eine Schürze um und dann zack an die Eistheke. Die arme Hellen kann kaum noch stehen!«
»Ich. Äh. Hallo. OK«, mehr brachte ich nicht raus.
Ich ging zum Haken mit den karierten Schürzen und verließ die Küche in Richtung Eistheke, damit ich nicht Gefahr lief, Kjell wegen der unverschämten Begrüßung zusammenzufalten. Was war das denn? Er erwischte mich heute auf dem verdammt falschen Fuß und konnte froh sein, dass ich Mitleid mit Hellen hatte.
»Anni! Dich schickt der Himmel!«, rief mir Hellen entgegen und umarmte mich herzlich, sodass sich meine Wut im Bauch verflüchtigte. Wie früher trug sie ein buntes Blümchenkleid. Nur der Zigarettenduft fehlte. Dafür lag ein Hauch von Menthol in der Luft.
»Wie geit di dat, min Deern? So lange haben wir dich nicht mehr gesehen! Schön, dass du da bist! Bedienst du die nächsten Kunden? Ich übernehme die Kasse.« Mit einem erleichterten Stöhnen kletterte sie auf den Kassierhocker und ich musste mich vollkommen auf meine neue Aufgabe konzentrieren, um keine Fehler zu machen.
»Wo sind die Zuckerstreusel, Hellen? Sind die immer noch kostenlos für Kinder?«
»Neben den Eisbechern am hinteren Tresen. Ja – ’türlich sind die noch kostenlos!«
Schlumpfeis mit Streuseln in der Waffel, Proseccoeis im Becher, Erdbeereis und Mangosorbet.
Bereits nach kurzer Zeit brummte mir der Schädel. Von Zeit zu Zeit hielt ich inne und blickte über den Tresen auf die Ostsee. Das Wasser glitzerte, ich hörte die Möwen schimpfen und den sanften Sommerbeat des Strandrestaurants, das ein Stück weiter in Richtung Hafen lag.
Gegen Abend ebbte die Schlange ab und der letzte, große Kundenansturm war bald vorbei. Meine Kraft neigte sich dem Ende zu und ich bemerkte, dass ich heute kaum etwas gegessen hatte.
»Hattest du eine gute Anreise?« Hellen riss mich aus meinen Gedanken.
»Ja, danke. Bis auf den Schienenersatzverkehr.«
»Der Zug fährt die ganzen Sommerferien nicht, min Deern. Irgendwas mit der Kanalbrücke und Fledermäusen. Keine Ahnung. Aber dafür ist es hier sehr ruhig ohne die Züge«, antwortete Hellen und blickte zu den verwaisten Schienen gleich hinter dem Café.
»Wie geht es Tante Rieke?«, fragte ich sofort. Nach so einer Menge zubereiteter Eisportionen hatte mein Gehirn den Grund meiner Reise kurzzeitig vergessen.
»Keine Sorge, min Deern, Rieke geht es gut. Sie ist unglücklich gestürzt und hat die Hüfte gemacht bekommen. Irgendwann erwischt es uns alle. Rieke und ich sind ja nicht mehr die Jüngsten.«
»Entschuldigung, ich würde gerne ein Eis bestellen«, sagte eine schüchterne Stimme vor dem Kühltresen.
»Na klar! Was möchtest du?«, antwortete ich unverzüglich. Das Mädchen strahlte mich an und ich erfüllte ihren Eiswunsch.
Einige Eisportionen später war Feierabend und ich versuchte nach diesem verrückten Tag, von Hellen zu lernen, wie sie den Kassenstand mit den verbuchten Tageseinnahmen abglich.
»Hier, Mädels. Ein Gruß aus der Küche.«
Kjell kam grinsend mit Matjesbrötchen aus der Küche und mein Magen war der Meinung, dass ich ihm seine schroffe Begrüßung augenblicklich verzeihen sollte.
»Danke«, sagte ich und schaute an ihm vorbei auf das Brötchen. Die Bedürfnispyramide setzt Nahrung deutlich vor soziale Kontakte und ich war heute körperlich und emotional auf Primatenebene unterwegs.
Ich biss in das heilsbringende Brötchen und fragte mampfend: »Seit wann gibt es im Seestern auch Fischbrötchen?«
»Seit Rieke dachte, es sei eine gute Idee, auf dieser Seite des Strandes auch Fischbrötchen zu verkaufen. Du bist doch schon seit ein paar Stunden im Laden, ist dir das noch gar nicht aufgefallen?«, antwortete Kjell.
»Nö«, musste ich gestehen.
Ich war anscheinend so mit Eisverkaufen beschäftigt gewesen, dass mir gar nicht aufgefallen war, was sich alles verändert hatte.
»Hast dich ja auch seit Jahren nicht mehr blicken lassen!«, schob er hinterher.
Hellen merkte, wie ich kauend überlegte, was ich Kjell Gemeines an den Kopf werfen konnte und tätschelte mir beruhigend das Bein. »So schön, dass du da bist, min Deern! Rieke hat mir versprochen, dass du kommen wirst. Anni lässt uns nicht im Stich, hat sie gesagt.«
»Natürlich. Ich habe sofort gepackt, als Mama mich angerufen hat«, antwortete ich. Dass es einen Besuch von Paul als letzten Auslöser gebraucht hatte, mussten die zwei nicht wissen. Vermutlich wäre ich auch ohne Paul gekommen, aber möglicherweise nicht gleich am selben Tag.
Paul. Dieser Idiot. Soll er doch mit seiner Tussi aus meinem Leben verschwinden!
Kaum hatte ich den letzten Bissen des Brötchens verschlungen, packte mich die Müdigkeit und ich gähnte so ausgiebig, dass mir der Kiefer schmerzte.
»Kann ich irgendwo unterkommen? Mama sagte, ich solle euch fragen. Spontan bei diesem Wetter ein Zimmer hier zu bekommen, scheint nicht besonders aussichtsreich zu sein.«
»Tante Rieke hat gesagt, dass du in ihrer Sommerwohnung über dem Café schlafen kannst«, antwortete Hellen. »Kjell hat einen Schlüssel für dich. Er wohnt dort oben im vorderen Zimmer, wie die letzten Sommer auch.«
»Ach ja. Hier, Anni. Ich hatte keine Zeit aufzuräumen, aber du findest dich ja zurecht.« Kjell warf mir den Schlüssel über den Tisch.
»Danke. Ok. Kein Problem«, sagte ich etwas überrollt von der Information, dass Kjell in meinem alten Gästezimmer mit der Blümchentapete und dem Segelboot im Fenster schlief.
»Wann müssen wir morgen mit den Vorbereitungen anfangen?«, fragte ich sachlich.
»Ich fahre gleich nach dem Aufstehen mit dem Lastenrad zum Hafen und kaufe Matjes und Brötchen. Eis wird morgen nicht geliefert. Für Waffelteig und Törtchen reicht auch noch alles. Morgen ist Montag und das Wetter soll nicht so prall werden … Es genügt, wenn du um neun bereit bist.«
»Ich bringe frische Beeren mit«, sagte Hellen. Dann zog sie eine E-Zigarette aus ihrer Kleidertasche und nahm einen tiefen Zug. Der Raum füllte sich mit Mentholdampf.
»Rauchen im Café?« Kjell zog eine Augenbraue hoch und sah Hellen an.
»Ach min Jung, wie früher.« Sie lachte ihr rauchiges Lachen und zog erneut mit geschlossenen Augen an der elektronischen Mentholzigarette.
»Tschüss, Kinners. Bis morgen!«
Wir riefen ihr »Tschüss« hinterher, als sie in ihrer Dampfwolke verschwand.
Kjell und ich schlenderten schweigend die Treppe zu Tante Riekes Sommerwohnung hoch. Beinahe zog mich meine Tasche die Stufen herunter, aber ich konnte mich fangen.
»Bis morgen«, sagte ich, ohne eine Antwort abzuwarten, und ging in das hintere Zimmer.
Ich wühlte mich durch den Tascheninhalt und fand unter den Büchern mein Schlafshirt und die Kulturtasche. Gähnend zog ich mich um und schlurfte ins Badezimmer.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief ich. Die Szenerie, die sich mir hinter der Badezimmertür bot, war verstörend eklig.
Ich schlug die Tür zu und stampfte, ohne zu klopfen, in Kjells Zimmer.
»Was soll das?!«
Kjell sah mich amüsiert an und sagte nichts.
»Das Badezimmer sieht aus wie ein Saustall! Wie lange ist Tante Rieke weg? Fünf Tage? Wie konntest du das Badezimmer in fünf Tagen so verhunzen?«
Kjell grinste bis über beide Ohren. In mir kochte es. Findet er das etwa lustig? Erst wohnt er in meinem Zimmer, dann das Bad und jetzt –! Ich sah an mir herunter und wünschte, der Boden würde sich unter mir auftun. Ich hatte ein altes T-Shirt mit den sieben Zwergen darauf an, trug eine Schlafanzughose mit Blümchenmuster und begann, den Grund seines Grinsens allmählich nachzuvollziehen.
»Süß, wie die sieben Zwerge hier mit der Zahnbürste fuchteln und mich beschimpfen!«, prustete er.
Ganz toll, Anni! Er nimmt dich mit Sicherheit ernst! Kjells Augen funkelten frech. Er wartete auf eine Antwort, doch ich entschied mich für einen kontrollierten Rückzug.
Ich wandte mich um und verließ sein Zimmer. Die Tür knallte hinter mir ins Schloss. Irgendwohin musste die angestaute Wut. Besser die Tür, als wenn ich mich weiter als zahnbürstenfuchtelnde, Siebenzwergeblümchenhose-Drama-Queen zum Affen machte. Dann suchte ich nach Lappen und Putzmittel, um wenigstens das Waschbecken, die Dusche und die Toilette grob zu reinigen.
Dabei verfluchte ich alle Männer dieser Welt und schwor mir, mich nie wieder auf einen Typen einzulassen.
Nur Ärger und Arbeit! Tante Rieke war auch immer glücklich ohne Mann. Außerdem wohnt Kjell in meinem Zimmer!
Trotz der Erschöpfung tat das Putzen gut und es half mir, meine Gefühle zu ordnen. Ich beruhigte mich und grübelte über diesen verrückten Tag. Der Auftritt von Paul, der Anruf von Mama, die Zugfahrt und der Sprung ins kalte Eisverkäufer-Wasser. Heute war mehr passiert, als in den letzten Wochen, in denen ich mich nach der Trennung von Paul in meinem WG-Zimmer verkrochen hatte.
Immerhin hatte ich keine Zeit, heulend mit Schokolade, Pizza und Netflix in Selbstmitleid zu versinken. Diese Ansicht half zwar kaum gegen den Ekel vor der ungeputzten Toilette, war aber positiv. Und optimistische Gedanken waren rar in letzter Zeit.
Die Wut verschwand und ich wurde unendlich müde. Das Duschen musste bis morgen warten. Ich putzte mir nach einer Katzenwäsche die Zähne und fiel vollkommen erschöpft in Tante Riekes Bett, welches frisch bezogen war und nach Lavendelwaschmittel roch. Vermutlich war das Hellens Werk. Ich sollte mich morgen bei ihr bedanken.
Das Mondlicht schien durch das offene Fenster und beleuchtete das Bett. Ich betrachtete müde das Rosenmuster am Kopfende, als mir die Augen zufielen.
Ich träumte. Von mir als Mädchen, wie ich am Strand turnte und überall voller Sand war. Von Tante Riekes Café, dem Duft nach frischen Waffeln und Sonnencreme und von polternden Klopfgeräuschen.
3 Der Laubbläser
»He, Anni. Aufwachen! Es ist Viertel vor neun. Oder haben dich die sieben Zwerge in einen hundertjährigen Schlaf geschickt?« Kjell klopfte weiter an die Tür.
»So geht das Märchen doch gar nicht!«, war das einzige, was ich schlaftrunken durch die verschlossene Tür antwortete. Das rhythmische Klopfen verstummte.
Vor dem ersten Kaffee waren meine Gehirnzellen im Tiefschlaf. Es dauerte einen lang anhaltenden Moment, bis ich begriff, dass ich in vierzehn Minuten unten im Café stehen musste.
Ich schnappte mir mein Duschzeug und sprintete ins Badezimmer.
»Nein!«, schrie ich schrill. Das konnte nicht wahr sein. Das Bad war halb überschwemmt und der gestutzte Dreitagebart von Kjell war im Waschbecken explodiert. Immerhin war die Dusche in Ordnung.
Na warte! Der Kerl kann sich auf was gefasst machen!
Eine Minute nach neun stand ich im Café und nahm eine große Tasse Milchkaffee von Hellen entgegen.
»Hellen, du bist ein Engel!«, sagte ich dankbar. »Wo ist Kjell?«, schob ich hinterher.
»Draußen, min Deern.«
Ich nahm einen kräftigen Schluck von meinem Kaffee und verbrannte mir den Mund, was mich in die richtige Laune versetzte, um mit Kjell ein Hühnchen zu rupfen.
»Ich bin gleich wieder da!«, rief ich Hellen zu.
»Mach hinne, min Deern, ich will noch eine schmöken, bevor wir aufmachen«, murmelte Hellen mir hinterher und suchte in den Taschen ihres Kleides nach ihrer Zigarette.
Ich hastete hinaus und sah Kjell, wie er mit einem Laubbläser hantierte, mit dem er den Kunstrasen vor dem Café von Sand und Blättern befreite.
Ich stapfte auf ihn zu, um ihm eine Standpauke über das Badezimmer, die Hygiene und Wertschätzung der Arbeit anderer zu halten.
»Moin Anni, auch schon wach?«, rief er und schaltete das Gerät an.
»Kjell! Was soll der Scheiß im Badezimmer?«, rief ich, doch das dröhnende Surren war lauter als ich.
Er signalisierte mir mit übertriebenem Schulterzucken, dass er mich nicht hörte. Dieser Typ brachte meine schlimmsten Seiten zum Vorschein! Ich war so wütend!
»Kjell, mach das Ding aus!«, schrie ich, aber er pustete mit einer routinierten Gelassenheit nach einem scheinbar festgelegten Muster die Grünfläche ab und wirbelte Sand in meine Richtung auf, sodass ich husten musste.
Das ist zu viel! Am liebsten hätte ich ihm mit dem Laubgebläse das Hirn weggepustet.
»Kjeeelll!«, rief ich hysterisch und dieser grinste. Er schaute mich mit seinen tiefblauen Augen an – hielt es offenbar nicht für nötig, sein amüsiertes Lächeln im Zaum zu halten – und ging seiner Arbeit nach.
Ich starrte ihn an.
Reihe für Reihe für Reihe wirbelte er mit der Höllenmaschine kontrolliert den Sand vor sich her, als sei es die wichtigste Aufgabe der Welt, die keinen Aufschub erlaubte.
Na der hat Nerven! Dieser Typ macht mich wahnsinnig! Ich versuchte, ihm fuchtelnd zu signalisieren, dass wir uns später über das Badezimmer unterhalten würden, und ging frustriert zu Hellen, die in ihrer Mentholdampfwolke vorm Café stand und uns beobachtete.
»Was glaubt er eigentlich, wer er ist?«, schimpfte ich.
»Wer, Kjell?«, fragte Hellen. »Was hat der Jung denn gemacht? Immer fleißig und immer hilfsbereit ist er. Ohne ihn hätte Rieke längst dicht machen können.«
Damit nahm mir Hellen den Wind aus den Segeln. »Ach nichts«, sagte ich kleinlaut und ging hinein, um mir meinen Ärger mit dem mittlerweile abgekühlten Kaffee runterzuspülen.
Ich half Hellen die Eistheke herzurichten und sah, dass Kjell bereits Fischbrötchen und Waffelteig zubereitet hatte. Er musste früh aufgestanden sein.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er die wuchtigen Strandkörbe an die vorgesehenen Stellen schob und die Tische und Stühle auf dem von ihm akribisch gereinigten Kunstrasen aufstellte. Er zog seine Sweatjacke aus und das T-Shirt schmiegte sich an seinen Oberkörper. Kräftig war er. Keine Frage. Und wäre er nicht ein dermaßen unverschämter und unhygienischer Küstenschrat, würde ich ihn als attraktiv bezeichnen.
Schnickschnack!, ermahnte ich mich innerlich, Männer sind alle kacke. Ich mache das wie Tante Rieke. Ich brauche keinen Mann und so einen aufgeblasenen Badezimmerverwüster dreimal nicht! Ich schnaufte und mein Herzschlag beruhigte sich. Gut, dass ich das mit mir geklärt habe. Ich werde Kjell heute aus dem Weg gehen!, beschloss ich.
…
Neugierig, wie es weitergeht?