Leseprobe Fischbrötchen und Schokoküsse von Jane Hell
Kapitel 1 – München
Die S-Bahn war rappelvoll. Es roch nach Schweiß und Leberkässemmel. Ich zog mir den hauchdünnen Schal über die Nase, schwankte und umklammerte die Haltestange. Sie war schmierig und ich hoffte, dass das nur mein eigener Schweiß war, den ich da fühlte.
Die Türen öffneten sich. Es war nicht meine Haltestelle, aber ich hastete hinaus. Die drei Blocks konnte ich auch laufen.
Meine Schuhe klackerten auf dem Gehweg und die Aktentasche hing mir schwer auf der Schulter. Die Luft, die mir entgegenkam, lag drückend in den Straßen. Was für ein ätzender Arbeitstag.
Die Huber aus dem Wohnkomplex in Neuhausen hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ihre Dusche undicht sei. Dann war da noch die Sache mit den Ratten in Hausnummer 74 a-f. Auf dem Schreibtisch vom Chef stapelten sich Handwerkeraufträge, die er gegenzeichnen musste, damit die Firmen einen Termin mit den Mietern ausmachen konnten. Immerhin hatte er so noch nicht den Mietrückstand von Frau Seifert entdeckt, den ich ganz nach unten in die Postmappe geschoben hatte.
Das Treppenhaus der Altbauwohnung, in der ich gemeinsam mit meinen Eltern lebte, war herrlich kühl. Ich schloss die massive Haustür hinter mir und lehnte mich gegen die Wand. Kraft schöpfen. Der vierte Stock ohne Aufzug hielt fit, war aber nicht das, was ich mir jetzt wünschte.
Mein Magen rumorte und ich sehnte mich nach einer kalten Dusche.
Auf geht’s, Mari!
Ruckartig zog ich die schwarzen Businessschuhe von meinen angeschwollenen Füßen. Die Feinstrümpfe lösten sich nur widerwillig, weil sie mit der Haut verwachsen zu sein schienen.
Barfuß auf dem erfrischend kalten Boden, Schuhe und Socken in der Hand, erklomm ich die sechsundneunzig Stufen zu unserer Wohnung. Ich schloss auf und trat in den hellen Flur.
Der weiß lackierten Tür verpasste ich einen Tritt. Krachend fiel sie hinter mir zu. Ich lehnte mich erschöpft dagegen und ließ alles an Ort und Stelle fallen, was ich die vielen Treppen hinaufgetragen hatte.
»Kommst du mal kurz, Mari?«
Ich zuckte zusammen. Diesen Ton kannte ich von Papa. Das hieß nichts Gutes. Aber ich war keine fünfzehn mehr, auch wenn ich mich in diesem Moment so fühlte.
Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Die Dielen knarzten unter meinen Schritten und ich trat über die erhöhte Schwelle in die Küche.
»Mari-Schatz. Setz dich.« Meine Mutter säuselte etwas zu freundlich und deutete auf den freien Stuhl an unserem Küchentisch.
»Du, Mari …«, druckste mein Vater rum und kraulte sich mit den Fingern den Bart. »Du bist ja nun schon gut fünfundzwanzig Jahre alt. Und deine Mutter …«, er nahm ihre Hand und sie drückte seine auffordernd, »… äh, und ich … wir … also, wir möchten dir ans Herz legen …«, er atmete einmal durch, löste sich aus Mamas Griff und lehnte sich im Stuhl zurück, »… dass du ausziehst.«
Mein Kinn klappte herunter. Mama wich meinem Blick aus und kratzte sich am Arm.
»Echt jetzt?« Mein Ton war pampig. »Was meint ihr, was ich seit drei Jahren versuche?« Ich schlug mit der Faust auf den Tisch.
Mama riss die Augen auf.
Papa verzog keine Miene.
»Habt ihr euch mal die Mieten angesehen? Ich kann mir keine Wohnung in München leisten – und ich zahle euch Miete.«
»Ja, mein Schatz.« Mama rückte auf ihrem Stuhl näher an mich heran und strich mir über den Rücken, doch ich wich ihren Berührungen aus. »Wir wissen, dass das nicht einfach ist, aber du arbeitest bei einer Hausverwaltung. Da muss doch was gehen. Irgendwie.«
»Ach, Mama.« Ich vergrub das Gesicht in den Händen. »Das macht die Mieten auch nicht kleiner. Die meisten Wohnungen sind Sozialwohnungen. Und ich bin für einen Schein vom Amt gerade über der Grenze.«
»Aber vielleicht … Weißt du, es ist wirklich eng hier. Und das wäre das Beste für dich. Und für uns. Wir dürfen uns nicht so aneinanderklammern. Da hat Frau Dr. Grünbaum schon recht.« Mama legte den Kopf schief. »Du musst deinen eigenen Weg gehen. Für dich und für uns.« Sie rieb mit der Hand über die Tischdecke und sammelte imaginäre Krümel mit den Fingern auf.
Mir verschwamm die Sicht und etwas drückte in meinem Hals. Ich wusste, dass sie seit einiger Zeit zu einer Psychotherapeutin ging, aber ich hatte nicht erwartet, dass ich etwas damit zu tun hatte. Meine Hände schmerzten, weil ich sie so fest knetete.
Wortlos stand ich auf und verschwand im Badezimmer. Die kalte Dusche rief nach mir. München bei dreißig Grad war unerträglich. Und das Gespräch mit meinen Eltern ebenso.
Was dachten die beiden sich? Dass ich es cool fand, mit fünfundzwanzig noch zu Hause zu wohnen?
Außerdem fragte ich mich, wer sich hier an wen klammerte. Es war doch Mama, die mich bei jedem Schritt umkreiste.
Als ob es an mir lag, dass ich nicht schon lange auf eigenen Beinen stand. So ein Quatsch. Der Wohnungsmarkt in München war kompliziert und Mama hatte immer wieder betont, dass ich gerne noch bei ihnen wohnen bleiben dürfe.
Sie hatte gar nicht gewollt, dass ich auszog, und irgendwie hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsste auf sie aufpassen. Als wäre sie traurig, wenn ich ginge.
Mit einem Salat und einem Stück von Mamas Lasagne hockte ich auf meinem Bett. Ich hatte eine Folge Bridgerton angeschaltet, aber ich beachtete den Bildschirm des Laptops kaum. Meine Gedanken lenkten mich viel zu sehr ab.
In meinem Zimmer sah es so aus wie zu Schulzeiten und tatsächlich verhielt ich mich, als wäre ich nicht für mich selbst verantwortlich.
Wer sonst wohnte mit Mitte zwanzig noch zu Hause und aß im Bett Mamas Essen?
Eine Träne kullerte meine Wange hinunter. Ich brauchte Trost. Unbedingt. Und da konnte nur Edward helfen.
Ich griff nach dem ersten Teil von Twilight, der wie ein Erste-Hilfe-Kasten auf dem Nachtschrank bereitlag, als mein Handy klingelte. Hektisch ließ ich das Buch fallen und tastete im direkten Umkreis die Bettdecke ab. Wo hatte ich das blöde Ding hingelegt? Der Ton klang dumpf. Ich sprang auf und durchwühlte die Klamotten, die ich heute im Büro getragen hatte, und fand das Smartphone in der Tasche des Jacketts.
Anni!
Mein Herz machte einen Hüpfer. Wir hatten schon ein paar Wochen nicht mehr miteinander gesprochen.
»Hey!«
»Moin Mari, wie geht’s dir? Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber wenn das Wetter so gut ist …«
»Ach, kein Problem.« Ich plumpste zurück auf mein Bett und stabilisierte in der letzten Sekunde den bedrohlich schwankenden Teller. »Und seit wann sagst du ›Moin‹? Das hätte es damals in Berlin nicht gegeben!«
Wir kicherten wie früher.
»Sag schon. Wie geht’s dir?«, fragte sie.
»Ach. Wie soll’s mir gehen?« Ich strich eine Falte aus der Bettdecke. »Sag, wie läuft das Café?«
»Super! Die Sonne scheint, die Leute essen Eis. So will es das thermische Eisgesetz.« Sie lachte und hörte sich glücklich an. »Aber was ist mit dir? Alles roger in München? Was ist aus der Wohnung geworden, die du dir letztens anschauen wolltest?«
Ich schluckte. »Ach ja, die. Das. Also, die war nichts. Viel zu dunkel. Und lag auch wirklich ungünstig. Und stell dir vor!« Ich holte einmal tief Luft. »Meine Eltern haben mir gerade tatsächlich gesagt, dass ich ausziehen soll.«
»Ja, wird ja auch Zeit. Also, finde ich.«
Jetzt fing Anni auch schon an. Konnten mich nicht mal alle damit in Ruhe lassen?! Ich verdrehte die Augen und stocherte mit der Gabel durch eine zähe Nudelplatte. »Ja. Vielleicht. Also, mein Verstand sagt das ja auch. Aber … du kennst mich doch.«
Ich hörte Anni am anderen Ende schnaufen.
»Ja. Eben.« Sie erhob ihre Stimme.
Was soll denn das jetzt heißen?!
»Träumst du nicht von einem eigenen Leben? Ich meine, du bist doch auch gut in deinem Job. Da lässt du dir ja auch nicht die Butter vom Brot nehmen.«
Nun brummte ich zustimmend ins Telefon. »Ich weiß ja, dass du recht hast. Aber …«
»Ich habe da was Cooles, wovon ich dir erzählen muss. Da habe ich sofort an dich gedacht.« Annis Stimme überschlug sich fast. »Du wirst mich wahrscheinlich für bekloppt halten, aber hör mal zu.«
Neugierig setzte ich mich auf und legte die Gabel beiseite. »Na, dann schieß mal los.«
»Also. Eine entfernte Bekannte von meiner Tante – die hat ein wunderschönes Anwesen direkt am Meer. Etwas außerhalb von Eckernförde. Wirklich ein Traum. Mit Strand!«
Ich lachte hart auf. »Von da aus wäre es für mich etwas weit zur Arbeit, aber teurer als ’ne Zweizimmerwohnung in München wird die Miete vermutlich nicht sein.«
»Ach du. Mal im Ernst. Die Bekannte, also Frau Larssen, sucht jemanden, der ihr hilft, das Anwesen zu verwalten. Den ganzen Papierkram, Handwerker koordinieren, Regelung der Finanzen und so. Das volle Programm. Sie hat auch irgendwo noch Wohnungen und was auch immer.« Anni machte eine kurze Pause und ich presste mir das Telefon fester ans Ohr. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. »Frau Larssen will aber keine Anzeige für den Job schalten. So was macht man nicht, sagt sie. Sie sucht jemanden auf Empfehlung. Am liebsten eine Frau.« Irgendetwas rumpelte bei Anni im Hintergrund und sie verstummte für einen Moment. Dann fuhr sie fort: »Also, wo war ich? Ach ja! Kjell kennt den Enkel ihrer Schwester, der die Verwaltung momentan nebenbei macht, und da bist du mir spontan eingefallen. Du wärst perfekt für den Job!« Vor meinem inneren Auge klatschte sie aufgeregt in die Hände.
Kannte sie mich wirklich so schlecht? Sie wusste doch, dass ich nicht so weit weggehen würde. Dass ich Angst hatte vor solchen Veränderungen. Richtige Scheiß-Angst. Und außerdem … »Ich bin Immobilienkauffrau und habe keine Ahnung von Altenpflege.«
»Mensch, Mari. Hast du mir überhaupt zugehört? Das ist kein Pflegejob. Du wärst die Verwalterin und würdest kostenlos eine Wohnung auf dem Gutshof bekommen. So wie sich das angehört hat, ist Geld nicht das Thema. Du kannst bestimmt mehr verlangen, als du jetzt verdienst. Und wie oft hast du mir schon erzählt, dass dir München zu stickig ist?«
Mein Ohr schmerzte, so fest presste ich das Smartphone dagegen. Ich hörte mein Blut rauschen, gleichzeitig schnürte sich mir der Hals zu. Ich schloss die Augen und beruhigte meinen hektischen Atem.
»Mari? Bist du noch da?«
»Äh … ja. Aber ich … das hört sich … Also, ich muss darüber nachdenken. Aber eher nicht. Dann müsste ich ja … Das wäre wirklich weit weg und …« Ich massierte mir die Schläfe.
»War mir klar, dass du nicht gleich die Koffer packst. Aber denk mal drüber nach, okay? Ich schicke dir noch Bilder vom Anwesen und die Adresse. Kannst dir das ja mal online ansehen.«
Ich schwieg. Meine Gedanken rasten bei dem Versuch, die Informationen zu sortieren. Ich hatte einen guten Job hier in München. Warum sollte ich den aufgeben? Außerdem konnte ich doch nicht einfach … Es war so weit weg. Wie sollte ich alleine dort klarkommen? Mein Brustkorb verengte sich und das Atmen fiel mir schwer.
»Mari? Alles gut?«
»Ja. Vielleicht. Allein der Gedanke an einen Umzug versetzt mich in Panik.«
»Ach, du kannst es dir ja mal überlegen. Ein Vorstellungsgespräch bei einer alten Dame tut doch nicht weh. Ich verspreche dir, dass ich auch dabei sein werde!« Anni lachte aufmunternd und verabschiedete sich von mir. Nicht, ohne noch einmal darauf hinzuweisen, dass ich mir diese Chance wirklich ernsthaft durch den Kopf gehen lassen sollte.
Ich warf das Handy auf die andere Seite des Bettes, als hätte ich mir die Finger verbrannt.
Ich konnte doch nicht einfach kündigen und zu einer alten Dame in die Pampa ziehen. Ich hatte nicht einmal einen Führerschein, geschweige denn ein Auto.
Mit dem Zeigefinger tippte ich mir an die Stirn.
Ach, Anni! Bereits im Kindergarten wollte ich Wochen vorher wissen, in welchen Zoo es beim Ausflug ging und wie der Ablauf sein würde. Ja, ich mochte nicht besonders spontan sein, aber so war ich nun einmal.
Dazu kam Mamas Aufregung. Vor jedem Ausflug hatte sie die Erzieher und später die Lehrer wahnsinnig gemacht mit ihren Fragen.
Wollte sie wirklich, dass ich auszog? Wir hatten ab und zu mal über eine eigene Wohnung für mich geredet, aber jede von uns hatte es auf die lange Bank geschoben.
Ein dumpfes Bauchgefühl erinnerte mich daran, dass ich als alte, verbitterte Frau immer noch bei meinen Eltern wohnen würde, wenn ich nichts änderte. Aber nach Norddeutschland? Das war für den ersten Schritt etwas übertrieben.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf die Matratze. Der Teller hüpfte in die Luft und die Gabel verteilte etwas Lasagne auf dem geblümten Bezug. Schnell fischte ich sie von der Decke und rieb über den roten Fleck.
Ich gähnte. Morgen wartete wieder jede Menge Arbeit auf mich. Wurde Zeit, dass der Chef aus dem Urlaub zurückkam. Die Post stapelte sich schon auf seinem Schreibtisch und ich hatte eine dringende Frage zu den Buchungen vom Mai.
Als ich am nächsten Morgen ins Büro kam, standen die Türen offen und ich musste mich an zahlreichen Männern vorbei zu meinem Schreibtisch drängeln.
»Bitte keine Panik. Wir sind von der Staatsanwaltschaft München. Wir gehen nur einem Verdacht auf Veruntreuung nach. Es geht um Herrn Schmidhuber. Ist der im Büro?«
Ich traute mich nicht, zu atmen. Vor mir stand ein Mann mit hochgekrempeltem weißen Hemd. Ein Polizist in Uniform begleitete ihn und wedelte mit einer Dienstmarke vor meinem Gesicht rum.
»Ich … ich weiß nicht«, stammelte ich. »Herr Schmidhuber ist seit einigen Tagen nicht mehr im Büro gewesen.« Ich deutete auf den Arbeitsplatz meines Chefs. Auf dem ausladenden Schreibtisch am hinteren Ende des Büros türmten sich die Unterlagen und die Postmappen. Wir waren zu dritt in der Firma und teilten uns den großen Raum.
»Okay. Es besteht der dringende Verdacht, dass sich Herr Schmidhuber mit den Instandhaltungsrücklagen und den Mieten der letzten drei Monate ins Ausland abgesetzt hat. Wissen Sie etwas darüber?«
Entsetzt sah ich den Mann vor mir an. »Das ist doch nicht … Wie konnte er!« Ich schüttelte den Kopf.
Weitere Männer betraten den Raum und packten alle Unterlagen, die sie fanden, in Kisten. Ich schnappte mir meine Tasche und stand auf. »Wie kann ich …? Was wird jetzt aus …?«
»Was ist denn hier los?« Vroni stolperte ins Büro und schlug sich die Hände vor den Mund.
»Der Chef ist anscheinend durchgebrannt. Mit der Kohle der Vermieter.« Erläuterte ich ihr knapp mit zitternder Stimme.
»Was – ach du meine Güte! Nee! Das ist … Was wird aus uns?« Vronis Augen füllten sich mit Tränen.
Ich löste den Klammergriff um meine Tasche, wühlte in ihr herum und reichte Vroni ein Taschentuch.
»Danke.« Sie tupfte sich die Augen ab und schnäuzte sich laut.
Mir drückte der Magen. Der Polizist, der meinen Computer abbaute, setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf.
»Entschuldigen Sie.« Ich trat einen Schritt auf den Mann von der Staatsanwaltschaft zu.
Er unterbrach das Gespräch mit einem uniformierten Kollegen. »Ja?«
»Also, meine Kollegin und ich«, ich ruderte mit den Armen, »was wird jetzt aus uns?«
»Tja, Mädchen, das weiß ich nicht. Ich denke aber, dass ihr vom Chef keinen Cent mehr seht. Wir nehmen gleich eure Personalien auf … und dann – Feierabend.« Er grinste schief.
Was für ein Idiot! Warum behandelte er mich wie ein kleines Kind?! Meine Atemfrequenz erhöhte sich.
»Bin gleich wieder da.« Meine Lider flackerten hektisch und ich rempelte einen der Polizisten an. Endlich erreichte ich die Tür und trat ins Freie.
Das konnte doch alles nicht wahr sein! Mein Magen krampfte und ich hatte keine Ahnung, was nun aus mir werden sollte. Nun hatte ich nicht einmal mehr einen Job. Vermutlich würde ich noch mit vierzig zu Hause wohnen.
Verdammt! Warum passierte so eine Scheiße? Mein Blick verschwamm. An der Hauswand stützte ich mich ab. Rau und kühl gab sie mir Halt und ich zählte von zehn runter. Bei eins angekommen richtete ich mich auf und straffte die Schultern. Vor diesen arroganten Polizisten würde ich bestimmt nicht heulen. Ich musste hier weg!
Mit erhobenem Haupt betrat ich das Büro. »Komm, Vroni. Wir lassen den Herren jetzt unsere Kontaktdaten da und dann gehen wir rüber zu Rosi und ich geb dir einen Kaffee aus.«
»Ich brauche was Härteres als Kaffee«, schluchzte sie.
»Meinetwegen auch das. Aber wir müssen unbedingt hier raus.« Ich zerrte sie am Ärmel hinter mir her und suchte uns einen zuständigen Polizisten, bei dem wir unsere Daten hinterlassen konnten.
Es war nicht einmal Montag, aber es fühlte sich an wie alle Montage eines ganzen Lebens zusammen.
Wir saßen an einem Tisch im Schatten vor dem kleinen Straßencafé, in dem wir schon oft unsere Mittagspause verbracht hatten.
Rosi stellte neben dem Kaffee noch zwei Schnapsgläser ab. »Mei ihr zwoa, die Birne geht aufs Haus.« Kopfschüttelnd sah sie von mir zu Vroni und tätschelte ihr tröstend die Schulter. »Männer – san so lange guad, bis Geld oder Weiber ins Spuil kimma.«
Vroni brach in Tränen aus und ich stocherte mit dem Löffel im Milchschaum herum.
»Sind wir jetzt arbeitslos?« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Ich weiß es nicht. Vermutlich ja – irgendwie.«
»Dieser Hundling!« Sie griff nach dem Schnapsglas, kippte den klaren Inhalt herunter und schüttelte sich.
»Ich hatte schon so ein komisches Gefühl. Hab letzte Woche die Buchungen gecheckt. Das hat alles nicht zu den Büchern gepasst.« Mit Daumen und Zeigefinger massierte ich meine Stirn. »Darüber wollte ich mit ihm sprechen, wenn er zurück ist. Hätte ich bloß schon vorher genauer hingesehen. Aber das kann man doch nicht ahnen.« Mir war immer noch übel. Ich betrachtete den Schnaps vor mir, schob ihn zu Vroni und nippte stattdessen am Kaffee.
Sie schüttelte ununterbrochen den Kopf und griff nach dem kleinen Glas. »Danke, Mari.« Diesmal verzog sie nicht einmal das Gesicht, als sie den Hochprozentigen herunterstürzte. Mit leerem Blick starrte sie an mir vorbei, ohne sich zu bewegen.
Ich nahm ihre Hand auf dem Tisch in meine und drückte sie fest.
Als hätte diese Berührung sie wieder in die Gegenwart zurückgeholt, riss sie die Augen auf, legte die Stirn in Falten und holte tief Luft. »Du bist noch jung. Lauf, Mari! Spring über deinen Schatten. Verlasse diese stinkende Stadt – und halte dich von Kerlen fern. Alles Vollidioten und Betrüger.« Sie löste ihre Finger aus meinem Griff und schlug auf den Tisch. »Ich brauch noch einen Kurzen. Rosi! Wo bist du? Rette mich!«
Kapitel 2 – Englischer Garten
Mamas trippelnde Schritte im Treppenhaus erkannte ich selbst in der Küche. Ihr Schlüssel kratzte im Schloss, kurz darauf kam sie herein und trat zu mir an den Esstisch. Sie runzelte die Stirn und versuchte, in meinem Gesicht zu lesen, was los war, zumindest sah ihr angestrengter Ausdruck danach aus.
»Liebes, Mari.« Ihr Blick fiel auf die Packung Schokoküsse vor mir. »Was …?« Sie eilte auf mich zu, nahm meine Wangen in ihre Hände und legte den Kopf schief.
»Mama, mein Chef. Die Polizei. Sie haben alles mitgenommen.« Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen, schnappte mir einen weiteren Schokokuss und biss in die Waffel.
»Wer hat was mitgenommen? Bist du bestohlen worden? Warst du bei der Polizei? Bist du verletzt?! Und warum isst du die Schokoküsse ohne Semmel? Das machst du doch sonst nie.« Sie trat einen Schritt zurück, schob mir einen Stuhl zu und setzte sich an meine Seite.
»Nein. Mir geht es … Alles gut. Aber mein Job …« Schnell stopfte ich den restlichen Schokokuss in den Mund und leckte mir die klebrigen Finger ab. »Mama, stell dir vor! Mein Chef hat das Geld der Kunden mitgenommen. Er ist weg. Und meine Arbeit auch.« Ich hob die Füße hoch auf die Stuhlkante und presste die Knie an die Augenhöhlen.
»Kindchen, das ist ja fürchterlich!«
Ich spürte ihre warme Hand auf meinem Rücken.
Beruhigend strich sie mir über die Schultern. »Das tut mir so leid, Mari. So sehr.« Sie stand auf, füllte Wasser in den Kocher und hängte zwei Teebeutel in die dunkelblaue Kanne mit dem Deckel, dem eine Ecke fehlte. »Weißt du, egal, was Frau Dr. Grünwald sagt – natürlich kannst du hier wohnen bleiben.« Sie lehnte sich an die Arbeitsfläche und die Falten auf ihrer Stirn erschienen mir noch tiefer zu sein.
Mit einem Becher Tee schlurfte ich in mein Zimmer. Ich stellte ihn auf dem Nachttisch ab, legte mich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kissen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag. Minuten? Stunden? Tage? Letzteres wohl nicht.
Die Gedanken in meinem Kopf fuhren Karussell. Ich hatte keinen Job mehr. Das Geld der Kunden war weg. Ich fühlte mich klein, hilflos und unnütz. Die Luft wurde dünn. Um meine Nase und in meinem Leben.
Das Handy summte. Ohne den Kopf zu heben, streckte ich den Arm aus und ertastete es in der Handtasche vor meinem Bett. Schwerfällig rollte ich auf die Seite und betrachtete die Nachricht auf dem Sperrbildschirm.
Hast du am Samstag um zehn Uhr Zeit? Nur ein unverbindliches Online-Kennenlerngespräch mit Frau Larssen. Du weißt schon – die mit dem Anwesen an der Ostsee. Ich drück dich.
Anni
Zahlreiche Emoticons grinsten mich an und Anni nahm vor meinem inneren Auge meine Hand und lächelte mir aufmunternd zu. Wie oft hatte sie mich schon aus meiner Komfortzone geschubst? Damals in der siebten Klasse zum Beispiel. Als ich mich nicht getraut hatte, vom Dreier zu springen. Da hatte sie einfach meine Hand genommen und bis drei gezählt.
Ich seufzte. Anni hatte schon oft für mich entschieden und es immer gut gemeint.
Ich legte das Handy mit dem Display nach unten auf die Matratze. Als könnte ich so die Welt aussperren. Denn die konnte mich heute mal.
»Friyay – hoch die Hände! Nach der Arbeit einen guten Start in ein wundervolles Wochenende.«
Ich riss den Stecker des Küchenradios aus der Buchse, um dem viel zu gut gelaunten Radiomoderator den Saft abzudrehen. Der sollte schon sehen, was er von seiner guten Stimmung hatte. Ich zumindest hatte verdammt schlechte Laune, weil ich keine Arbeit hatte, nach der ich ins Wochenende starten konnte. Ich hatte kein Wochenende mehr, weil ich arbeitslos war.
Arbeitslos. Wie das klang!
Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Brustkorb aus.
»Mensch, Mari – jetzt muss ich die Uhrzeit wieder neu einstellen.« Mama raufte sich die Haare. »Hättest du das Ding nicht einfach ausschalten können?« Sie drängte sich an mir vorbei und steckte den Stecker in die Dose. Fluchend drückte sie auf den Knöpfen herum.
»Sorry.« Ich schluckte. Mama konnte nun wirklich nichts für meine bescheuerte Situation.
»Wollen wir vielleicht spazieren gehen?« Sie wanderte mit zwei Fingern die Arbeitsfläche entlang, als wären sie zwei gehende Beine.
»Meinetwegen. Ich habe ja sonst nichts zu tun«, sagte ich pampig. »Ich zieh mir kurz was Richtiges an.«
Mama und ich überquerten schweigend ein paar Kreuzungen und schlenderten durch den Englischen Garten.
Die Sonne kitzelte meine Nase und ich musste kräftig niesen. Ich blinzelte und kniff die Augen zusammen. Wo war meine dämliche Sonnenbrille? Ganz unten in meiner Tasche ertastete ich sie und setzte sie auf.
»Was … äh … willst du jetzt machen?« Mama zögerte bei ihrer Frage zu Recht, denn wenn ich das gewusst hätte, hätte ich deutlich bessere Laune gehabt.
»Ein Eis kaufen«, antwortete ich und reihte mich in die Schlange am Eiswagen ein.
»Das meinte ich doch nicht.« Mama stellte sich neben mich. Sie konnte so besorgt gucken mit ihren dunkelgrauen Augen und den vielen Furchen auf der Stirn.
»Ach, Mama. Ich weiß es nicht.« Ich strich mir über den Rock meines Sommerkleides und bohrte die Fußspitze in den sandigen Weg. »Anni hat mich die Woche angerufen. Sie hat anscheinend den perfekten Job für mich an der Ostsee. Als Verwalterin eines Anwesens und quasi Privatsekretärin für eine ältere Dame.«
Mamas Augen weiteten sich.
»Wie viele Kugeln? In der Waffel oder im Becher?« Die Eisverkäuferin trug eine alberne weiße Mütze und sah aus, als wäre sie einem Wimmelbuch für Kinder entsprungen.
»Eine Kugel Schokolade in der Waffel für mich, bitte.« Ich zeigte auf die ausgesprochen cremige braune Masse im gekühlten Metallbehälter.
»Und für mich bitte eine Kugel Erdbeere in der Waffel«, sagte Mama und kratzte sich am Kopf. »Kindchen, das ist ja … ein interessantes Angebot.«
»Aber ich kann doch nicht einfach meine Sachen packen und an die Ostsee ziehen. Weißt du, wie weit das weg ist?« Ich fummelte das Portemonnaie aus meiner Jeans. »Ich habe das gestern mal gecheckt. Das sind neunhundert Kilometer. Stell dir das mal vor. Da muss man mit dem Zug bestimmt einen ganzen Tag fahren.«
Mama nahm unsere Waffeln entgegen und runzelte immer noch die Stirn.
»Danke«, sagte ich, griff nach meinem Eis und probierte die herrlich süße Schokomasse.
»Ja, da hast du vermutlich recht. Das ist wirklich nicht um die Ecke.« Sie wischte sich mit der freien Hand über die Stirn. »Ganz schön heiß heute.« Sie hielt ihr Eis vor sich und es löste sich bereits ein rosaroter Tropfen, der die Waffel entlang rann.
»Dein Eis!«, ermahnte ich sie.
Sie leckte das triefende Sorbet ab und ließ mich dabei nicht aus den Augen.
»Was ist?«, fragte ich misstrauisch. »Das Gute wäre, wenn ich das Angebot annehme, gehe ich euch wenigstens zu Hause nicht mehr auf den Geist.«
Ich konzentrierte mich auf das schmelzende Eis in meiner Hand.
»Mensch, Mari. Du weißt, dass das so nicht gemeint war, oder? Ich habe dich gerne in meiner Nähe und mir wäre gar nicht wohl dabei, wenn du so weit wegziehst.« Sie hob die Augenbrauen. »Aber wenn du dich dafür entscheidest, stehe ich natürlich hinter dir. So ein Ortswechsel kann auch ein Neuanfang sein. Du kannst auf eigenen Beinen stehen und dich komplett neu erfinden.«
Ich verschluckte mich an meinem Eis und blieb stehen. Nach einem kurzen Hustenanfall sagte ich: »Was soll das denn heißen? Glaubst du, ich bin unselbständig? Und überhaupt!« Ich stemmte eine Hand in die Seite. »Wozu soll ich mich neu erfinden? Hast du das auch von Frau Dr. Grünwald? Redet ihr da eigentlich über dich oder über mich? Bin ich nicht gut, so wie ich bin?«
Mama legte beschwichtigend ihre freie Hand auf meinen Arm. »Nein, nein. Mäuschen, das meine ich nicht. Nur vielleicht wäre das deine Chance, auf eigenen Füßen zu stehen. Einfach mal dein eigenes Ding zu machen.«
Ich sagte nichts und kickte einen Stein vom Weg ins Gras. Was sollte das heißen, mein eigenes Ding? Das machte ich doch schon. Ich hatte die Schule abgeschlossen, studiert und einen Job gefunden, der mir Spaß brachte und in dem ich gut war. Aber anscheinend reichte es für Mama nicht aus.
Alles an mir fühlte sich auf einmal schwer an. Als würde an meinen Schuhen eine Bleisohle haften. Das letzte Stück Eiswaffel klebte mir wie Pappe am Gaumen.
Ich deutete auf eine freie Parkbank und wir setzten uns.
»Findest du mich wirklich unselbständig?« Meine Stimme war so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
Mama legte einen Arm um mich. Sie drückte mich fest und seufzte. »Ach, Mäuschen. Nein. Du bist deinen Weg gegangen und du hast immer alles großartig erledigt, was von dir erwartet wurde.« Sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich kuschelte meinen Kopf an ihre Schulter und schloss die Augen.
»Aber weißt du – genau das ist der Punkt. Du hast immer das gemacht, was wir erwartet haben oder was deine Lehrer erwartet haben oder dein Chef. Ich weiß gar nicht, ob du überlegt hast, was du von deinem Leben erwartest.« Sie seufzte. »Und es ist immer einfacher, sich selbst zu finden, wenn man bei null anfängt. Also, wenn man … wie soll ich das sagen … wenn man in eine neue Umgebung kommt und sich ausprobieren kann. Selbst, wenn es nur für eine begrenzte Zeit ist.«
Ich sagte nichts und sog Mamas blumig-frischen Duft ein. Was sollte das heißen? Mich ausprobieren? Ich würde wohl kaum zur Partymaus werden und reihenweise Typen abschleppen. Oder an ein Gummiband geknotet von einer Brücke springen. Eine Draufgängerin war ich noch nie gewesen. Im Gegenteil.
Ich richtete mich auf und wischte meinen Pony zur Seite. »Und was ist, wenn ich Heimweh bekomme? Wenn es mir im Norden nicht gut geht und ich mich jeden Abend in den Schlaf weinen muss?« In meinen Gedanken war ich wieder die Grundschülerin in Jugendherbergslaken. Meine Augen wurden feucht.
Mama legte die Hand auf meine Schulter. »Stopp! Durchatmen, Mäuschen. Alles ist gut. Du bist im Englischen Garten und außerdem nicht mehr in der vierten Klasse.«
Ich schluckte schwer. Die Klassenfahrt in die Uckermark. Was für ein Reinfall! Ich bin so hysterisch geworden, dass Mama mich am dritten Tag abholen musste. Das war keiner der Momente, an die ich gerne zurückdachte, weil er eine tiefe Kerbe in meine Kindheitserinnerungen gebrannt hatte.
»Aber wir sind schon einmal umgezogen – damals in der zehnten Klasse. Nach München. Das war doch ein Neuanfang.« Ich verschränkte meine Hände vor der Brust.
Mama zuckte mit den Schultern. »Joa – das war ein kleines Drama. Aber du hattest ja uns. Weißt du. Da dachtest du auch, eine Welt würde untergehen und am Ende war’s gar nicht so übel.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Nicht so übel? Mama musste sich ja auch nicht vor fünfundzwanzig fremden Jugendlichen vorstellen und die Fragen der Lehrer vor der ganzen Klasse beantworten. Ich wäre fast gestorben vor Aufregung.
Ich presste die Lippen aufeinander. Ich bin ein bemuttertes Küken gewesen. Da gab es nichts schönzureden. Und in diesem Moment fühlte ich mich wieder genau so wie damals vor dem Umzug.
Mama stand auf und reichte mir die Hand. »Komm, wir gucken noch, ob wir ein paar Enten beobachten können, und dann koche ich uns was Schönes.« Sie reichte mir die Hand, half mir hoch und ich hakte meinen Arm in ihren.
Alle düsteren Gedanken, die in meinem Kopf herumspukten, verdrängte ich und spielte mir vor, ich hätte einfach einen Tag freigenommen, den ich mit Mama verbrachte. Das hatten wir bereits öfter getan und so schob ich all meine Zweifel beiseite und genoss das bunte Treiben in der grünen Oase Münchens an diesem herrlichen Frühsommertag.
Wir kauften noch frischen Salat und ich half Mama beim Kochen. Die Verdrängungsstrategie funktionierte genau so lange, bis ich nach dem Essen die Tür von meinem Zimmer hinter mir schloss und kraftlos aufs Bett sackte.
Anni rief am Samstagmorgen zweimal an, um zu fragen, ob ich das Online-Vorstellungsgespräch auch wirklich wahrnehmen würde. Also saß ich pünktlich mit weißer Bluse, dunkelblauem Blazer und ordentlich gebürsteten Haaren am Schreibtisch vor dem Laptop und kaute auf dem Kugelschreiber herum, den ich für mögliche Notizen zurechtgelegt hatte.
Durch die Kamera des Computers wirkten meine Haare zu rot, meine Haut zu blass und meine grünen Augen zu klein. Außerdem schwitzte ich wie blöd. Gut, dass man über das Internet keinen Schweiß riechen konnte.
Eine Nachricht leuchtete auf dem Sperrbildschirm meines Handys auf:
Bereit?
Ich sendete einen gelben Daumen nach oben. Testhalber räusperte ich mich. Nur um zu prüfen, ob meine Stimme noch funktionierte.
Plötzlich dudelte der Anruf im Laptop. Mit verkrampftem Zeigefinger klickte ich auf den grünen Hörer.
Ein wackeliges Bild erschien. Ich lächelte, weil ich Annis Locken erkannte, die vor der Kamera baumelten.
»So, da muss ich noch … ja, jetzt müsste … so.«
Der Vorhang aus ihren Haaren verschwand und gab den Blick frei auf meine Gesprächspartner.
Ja, da war Anni. Und eine ältere Dame, die kurz darauf scharf gestellt wurde.
»Und ich kann jetzt einfach sprechen, min Deern?« Das musste Frau Larssen sein. Sie trug einen geblümten Blazer und hatte ihre grauen Haare zu einem strengen Dutt zurückgebunden.
»Ja. Als würde Frau Schwarz direkt mit Ihnen am Tisch sitzen. Einfach mal losschnacken.« Anni lachte hell auf und ich umklammerte den Stift in meiner Hand.
»Guten Tag, ich bin Marina Schwarz. Können Sie mich hören?« Meine Hände schwitzten.
»Guten Tag, Frau Schwarz. Na, das ist ja herrlich. Ich kann Sie sogar sehen!« Sie winkte in die Kamera.
Ich zögerte und winkte zurück. Niemand sagte mehr etwas und ich hatte das Gefühl, als würde die alte Dame mich anstarren.
Sie wandte den Blick zur Seite. »Anni, min Deern, was soll ich nun tun?«
Anni kicherte und ihr vertrautes Gesicht erschien in einer Ecke des Bildes, als sie über Frau Larssens Schulter lugte.
»Moin Mari! Schön, dass es geklappt hat. Vielleicht magst du Frau Larssen ein wenig über dich erzählen. Was du studiert hast, welche Berufserfahrung du hast und so weiter.« Sie streckte einen Daumen nach oben und strahlte mich aufmunternd an.
»O-kay«, stammelte ich. »Also, ich bin Marina Schwarz, fünfundzwanzig Jahre alt, habe einen Bachelor in Immobilienwirtschaft und bin seit zweieinhalb Jahren bei einer Hausverwaltung angestellt.«
Bis vorgestern, dachte ich. Aber das sagte ich lieber nicht. Ich schüttelte mich unmerklich und wischte mir den Pony aus dem Sichtfeld.
»Das klingt solide.« Frau Larssen nickte und fummelte an der Lesebrille herum, die in ihrer Frisur steckte. »Und nun?« Sie wandte sich wieder an Anni.
»Nun könnten Sie erzählen, für welche Aufgaben Sie jemanden suchen.« Ihre Stimme klang weit entfernt.
»Ach ja. Genau. Ich war ganz abgelenkt von der Technik.« Frau Larssen zupfte an ihrer hellblauen Bluse und dem um den Kragen geschlagenen, zusammengerollten Seidentuch. »Also, seitdem mein geliebter Herbert gestorben ist, verwalte ich unser Anwesen und das Mietshaus in Schwedeneck. Und –« Sie stockte, kramte ein Stofftaschentuch aus ihrer Jacketttasche und tupfte sich die Stirn ab. »In letzter Zeit komme ich damit nicht mehr gut zurecht. Das wird mir alles etwas viel und ich würde gerne den ganzen Zettelkram an jemanden abgeben, der jünger und fitter ist als ich. Mit Computern, Sie wissen schon. Das ist nichts für mich.« Sie zeigte auf die Kamera, also auf mich, meinte aber vermutlich das Gerät vor ihr stellvertretend für alle Technik dieser Welt.
Ich lächelte verständnisvoll. »Wie sind Sie denn bisher zurechtgekommen ohne Computer? Ich stelle mir das sehr schwer vor, zum Beispiel bei den Jahresabrechnungen für die Mieter oder anderen Verwaltungstätigkeiten.«
»Oh ja. Sehr schwer. Momentan lebt der Enkel meiner Schwester hier. Der hat mich großartig unterstützt. Aber das kann er schließlich nicht die ganze Zeit machen. Nun muss mal alles in geregelte Bahnen gelenkt werden.« Sie nickte ausdrucksstark und ich lächelte.
»Also, was meinen Sie?«, fragte Frau Larssen. »Sie bekommen kostenlos eine geräumige Zweizimmerwohnung auf dem Anwesen gestellt und ich zahle Ihnen zweitausendeinhundert Euro pro Monat und Weihnachtsgeld. Natürlich gibt es bei mir auch Gehaltserhöhungen.« Spendabel gestikulierte sie mit der Hand vor ihrem Körper.
Ich biss mir auf die Zunge. Das waren gut hundert Euro mehr als ich bei Herrn Schmidhuber verdient hatte. Und ich hätte zusätzlich eine eigene Wohnung.
Wann fuhr der nächste Zug in den Norden?
»Ich …« Einen winzigen Moment war ich versucht, sofort zuzusagen. Aber verdammt – es war am Arsch der Welt! Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich atmete flach. Ich stand kurz vor einer Panikattacke.
Im Kopf wiederholte ich Mamas beruhigende Worte. Ich war hier in München, in meinem Zimmer. Alles war gut.
»Danke. Das ist sehr großzügig.« Ich erinnerte mich daran, zu lächeln, bedankte mich erneut für das Angebot.
Anni moderierte ein wenig hin und her und ich erbat Bedenkzeit bis Montag. Wir verabschiedeten uns und ich starrte eine Weile auf den schwarzen Bildschirm.
Das Angebot war wirklich großartig. Aber der Job war am falschen Ort. Viel zu weit weg. Ich massierte krampfhaft meine Schläfen.
Was wäre, wenn ich all meinen Mut zusammennahm? Könnte ich vielleicht …? Mir brummte der Schädel. Mein Kopf benötigte eine Auszeit.
Ich zog das Businessoutfit aus und schlüpfte in ein übergroßes Sweatshirt. Ein Buch! Ich brauchte ein Buch. Sofort! Edward und Bella mussten mich in eine andere Welt bringen, also blätterte ich zu meiner Lieblingsstelle. Dorthin, wo die Spannung zwischen den beiden nicht mehr auszuhalten ist und sie merken, wie sehr sie sich begehren.
»Hast du deine warme Jacke? Und die für den Übergang? Und …« Mama rannte durch die Wohnung wie ein aufgeschrecktes Huhn. »Und eine Mütze! Da oben ist es windig. Nimm eine Mütze mit! Und Gummistiefel. Hast du welche? Warte, ich suche meine.«
Es rumpelte in der Abstellkammer und ich verpasste meiner Zimmertür einen Tritt.
Mama machte mich wahnsinnig mit ihren Ratschlägen. Als ob ich nicht in der Lage wäre, zu packen.
Ich faltete meine rosafarbene Lieblingssweatpants zusammen und legte sie in den aufgeklappten Koffer, der auf dem Bett thronte.
»Hier! Meine Gummistiefel. Es ist doch so nass im Norden. Und es regnet die ganze Zeit.« Sie hielt zwei grünbraune Stiefel hoch und guckte zwischen ihnen hindurch.
»Mama, du hast Schuhgröße achtunddreißig. Wie soll ich denn da reinpassen?« Ich strich die bereits gepackten Klamotten glatt und überlegte vorm Bücherregal, welche von meinen Lieblingsstücken ich mitnehmen sollte.
»Ach ja. Und nun? Was machst du denn, wenn es regnet?« Sie ließ den Kopf hängen. Die Stiefel fielen ihr aus den Händen.
»Ach Mama.« Ich nahm sie in den Arm. »Das wird schon alles klappen. Ich gehe nur nach Schleswig-Holstein, nicht ans Nordkap.«
Sie nickte bedrückt und trat einen Schritt zurück. »Ja. Stimmt. Und … ach, so ein Mist.« Sie schlug sich an die Stirn. »Ich wollte doch nicht so sein – so …« Sie rang nach Worten und ich streichelte ihren Rücken.
»Ist schon gut, Mama.«
Sie sammelte die Gummistiefel vom Boden auf. »Du schaffst das. Natürlich schaffst du das, meine kleine Große«, murmelte sie leise und verließ mit hängenden Schultern das Zimmer.
Mein Bauch grummelte. Warum sollte ich es nicht schaffen, mit dem Zug nach Eckernförde zu fahren und dort zu arbeiten? Mama machte mich noch nervöser, als ich eh schon war. Ich schloss die Zimmertür.
Ab sofort würde ich alleine klarkommen.
Alleine im Norden.
Kapitel 3 – Tim-Ove
Das Quietschen der haltenden Regionalbahn schmerzte mir in den Ohren. Ein Kind fuchtelte mit seinem Kescher vor meinem Gesicht herum. Der Geruch von Schweiß und Sonnencreme waberte durch den Waggon.
Endlich öffnete jemand die Tür und ich wuchtete den Koffer auf den Bahnsteig und pustete die Luft aus, die ich im Gedränge angehalten hatte.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Geblendet kniff ich die Augen zusammen.
Anni hatte gesagt, mich würde jemand abholen, denn das Anwesen von Frau Larssen lag einige Kilometer außerhalb von Eckernförde und dorthin fuhr kein Bus.
Die anderen Fahrgäste eilten zur Ampel oder begrüßten ihre Freunde oder Verwandten.
Langsam leerte sich das Gleis.
Mit aller Kraft zerrte ich an dem ausfahrbaren Koffergriff, der klemmte.
Ein Schmerz durchfuhr meine Fingerkuppen. Reflexartig verpasste ich dem Hartschalenmonster einen Tritt. »Scheißding!« Ich zerrte das sauschwere Ungetüm gebückt neben mir her, wobei mir meine Tasche von der Schulter rutschte und auf halb acht an meinem Arm hing.
Ein belustigtes Lachen erreichte meine Ohren. Hastig wischte ich mir die Haare aus dem Gesicht, um meine Umgebung zu sondieren.
»Na, Fingernagel abgebrochen?«
Ich kniff die Augen zusammen. Gegen die Sonne erkannte ich die Silhouette eines Typen mit schlanker Statur, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
»Nein. Mit meinen Fingernägeln ist alles in Ordnung. Und was geht dich das eigentlich an?« Ich richtete mich auf, betrachtete meine Hände und schob sie in die Taschen meiner Jeans.
»Verstanden.« Der Typ nickte.
Er war einen knappen Kopf größer als ich, also vermutlich eins fünfundachtzig oder so. Seine dunklen Haare waren gelockt und fielen ihm ins Gesicht. Das schwarze T-Shirt und die dunkelgraue Jogginghose standen ihm gut, auch wenn sein Outfit etwas zerknittert war.
Ich fragte mich, ob er gerade erst aufgestanden war.
Er grinste immer noch, als würde er sich über mich lustig machen.
»Dann stelle ich mich mal lieber vor.« Der Typ streckte die Hand in meine Richtung aus. »Ich bin Tim-Ove Larssen.« Seine Hände waren gepflegt manikürt, was man von meinen nicht behaupten konnte.
Ich ergriff sie und sein fester Druck quetschte mir die Finger zusammen. Sofort riss ich meinen Arm zurück und vergrub die Hände wieder in den Hosentaschen.
»Und du? Bist du …« Er fummelte sein Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum. »Marina Schwarz?«
Ich wischte mir den Pony seitlich über die Stirn. »Ja, aber die meisten Menschen nennen mich Mari. Außer meine Mutter, wenn ich was ausgefressen habe.«
»Na dann. Ist das dein Koffer, Marina?«
Blöde Frage. Ich verpasste dem widerspenstigen Ding einen Tritt und der Trolley rollte in seine Richtung.
Mit Leichtigkeit entriegelte er den Mechanismus und zog den Griff nach oben. »Sieht aus, als kämst du alleine nicht klar.«
Der Typ hörte sich ja an wie Mama. Ärger brodelte in meinem Bauch. Das Letzte, was ich brauchte, war jemand, der mich bemutterte und sich dabei noch über mich lustig machte. Was für ein Kasper war das bitte?
»Du kannst mich gerne Mari nennen«, war das Einzige, was mir auf seine Bemerkung einfiel.
Er wandte sich um und rollte den Koffer mühelos zum Parkplatz.
Ich stolperte ihm hinterher.
Im Gehen schaute er sich zu mir um. »Können ist freiwillig, oder? Also kann ich dich auch Marina nennen. Oder Frau Schwarz, wenn ich mag. Liege ich richtig?« Er zwinkerte mir zu und ich verdrehte die Augen.
»Meinetwegen kannst du mich auch Bayerntrulla nennen. Mir egal.« Ich spuckte die Worte aus und knetete meine Hände. Mein Benehmen hatte ich wohl in München gelassen.
»Bayerntrulla?« Er lachte auf und kramte einen überdimensionierten Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor.
…
Neugierig, wie es weitergeht?